Donnerstag, 13. Mai 2010

Cornelius Hell

Denn der Missbrauch ist im Katholizismus systemimmanent, es ist geradezu vorhersehbar und verständlich, dass es dazu kommt. Die katholische Kirche bürdet nämlich ihrem (nur aus männlichen Junggesellen bestehenden) Kaderpersonal, den Priestern, ein Moralkorsett auf, das unmenschlich ist: Jedes Ausleben der Sexualität ist lebenslang verboten, jeder Orgasmus kann nur Sünde sein. (Katholische Priester dürfen ja nicht heiraten, Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe gilt als Sünde, Selbstbefriedigung ebenfalls.) Weil jeder weiß, dass das nicht lebbar ist, es aber im autoritären System, dem die beruflich von der Kirche Abhängigen ausgesetzt sind, nicht sagen darf, bildet sich ein Klima der Toleranz für die Übertretungen. Und weil alles zur Sünde erklärt wird, verschwinden – gerade bei den rigiden Unterdrückern der Sexualität – die Unterschiede zwischen dem, was alles als Sünde gilt. Ein prominentes Beispiel dafür ist der in seinem Charisma und seiner Machtgeilheit, seiner Begegnungsfähigkeit wie seiner Fixiertheit auf Sexualverbote hochambivalente Papst Johannes Paul II., der immer wieder Empfängnisverhütung und Abtreibung in einem Atemzug genannt hat. Ein anderes Beispiel sind die Priester, die Kinder missbrauchen; für sie war das wahrscheinlich keine schlimmere Sünde als jede andere Übertretung der absurden Verbote, mit denen sie indoktriniert worden waren.

Klar geworden ist mir das, als ich im ersten Entsetzen über die Untaten Kardinal Groërs einen befreundeten Priester fragte: „Warum hat Groër, wenn er sein Begehren schon nicht unterdrücken konnte, nicht wenigstens daran gedacht, sich einen Strichjungen zu holen, anstatt von ihm psychisch abhängige Kinder zu missbrauchen?“ Mein Freund antwortete: „Das hätte der sich nie getraut.“ Und da hatte er vermutlich recht.

Das bedeutet freilich nicht nur, dass er kein Wissen darüber hatte, wie sexueller Missbrauch ein Leben zerstört, sondern dass er sich (und erst recht nicht anderen) seine sexuellen Bedürfnisse gar nicht eingestehen konnte. Wer sie sich eingesteht, hat die Möglichkeit zu entscheiden, welche er verwirklicht und welche nicht. Wer nur auf die Unterdrückung seines Begehrens fixiert ist, ist ihm, sobald die Dämme brechen, ausgeliefert. Und hat hernach Schuldgefühle, mit denen er sich den unlebbaren Regulierungen seiner Sexualität umso vehementer unterwirft; darum wird die verquere Sexualideologie der katholischen Kirche gerade von denen nicht hinterfragt, die weder mit ihr leben noch sich davon befreien können. Solche Schuldgefühle sind wichtig für ein autoritäres System. Solange Menschen an dieses System glauben und seine Sexualgebote zu erfüllen suchen, bleiben auch die Psychostrukturen, die Missbrauch fördern, und das Klima, das ihn toleriert.

Die katholische Kirche als Ganzes müsste sich ändern; sie müsste öffentlich eingestehen, dass so ziemlich alles, was sie in den vergangenen Jahrhunderten zum Thema Sexualität von sich gegeben hat, obsolet ist. Es halten sich ohnedies selbst die innersten Kernschichten schon lange nicht mehr daran: Ein Großteil der nicht homoerotisch veranlagten Priester hat eine Partnerin, und selbst Theologen und kirchliche Angestellte kümmern sich kaum um das Verbot vorehelicher Sexualität, von der absurden Verurteilung einer „künstlichen“ Empfängnisverhütung ganz zu schweigen. Ich habe noch immer viele Freundinnen und Freunde im katholischen Milieu, kenne aber niemanden, der die Idiotien der Päpste gutheißt, wenn sie in Afrika (und selbst den Aidskranken) Kondome verbieten wollen. Doch wenn sie beruflich für die Kirche arbeiten, dürfen sie das nicht sagen.

Der Zwang, die eigene Meinung und die eigene Lebensform verstecken zu müssen, ist der eigentliche Schaden der rigorosen Sexualverbote. Die Lust konnten die allgegenwärtigen Verbote nämlich auch dann im katholischen Milieu nie ganz unterdrücken, als sie noch eine Wirkung hatten, im Gegenteil: Oft funktionierten sie nach der Formel eines schönen Buchtitels von Helmut Eisendle: „Das Verbot ist der Motor der Lust“. Oder wie es eine Frankfurter Prostituierte in einem Brief an Papst Johannes Paul II. formuliert hat: „Solange Ihr Thron steht, wackelt auch mein Bett nicht.“

Heute brauchen auch Katholiken keine Verbote mehr, um ihre Lust zu leben

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