Jesus? Irgendetwas hat man doch von diesem Typ gehört, bloß was? Über das Verblassen des Christusbildes
Und was es heißt, sich wirklich ein Bildnis zu machen.
Du sollst dir kein Bildnis machen, weder von dem was im Himmel noch was auf Erden ist oder im Wasser unter der Erde. Und schon gar nicht von Gott. So etwa steht es im zweiten Buch Moses. Da diktiert der Chef selbst seine Gebote auf dem Berg Sinai, seinem ersten Sekretär Moses diktiert er sie. Am Anfang steht sein Wort, nicht sein Bild, er ist ein Gott, der verbal verkündet sein will, nicht etwa in Form von in Stein gemeißelten Comic-Strips. Mit gutem Grund, dieser Gott, sollte man glauben, wird schon wissen, was er sagt. Moses ist jedenfalls dieser Ansicht, im Namen dieses Gottes, den man allerdings nicht aussprechen darf, duldet er keine Widerrede. Und das gilt dann: Von Gott macht man sich kein Bild, auch Menschen soll man nicht im Bild festhalten. Das gilt etwas mehr als 1500 Jahre. Aber dann kommt Jesus.
"Papa, warum hat der liebe Gott nur eine Unterhose an?", fragte mich meine Tochter, als sie noch ein Kind war, vier oder fünf Jahre alt, das ist auch schon eine Weile her. "Wie kommst du denn darauf?", fragte ich sie. Das habe die Oma gesagt. Die hatte Miriam, das in ihren Augen arme Kind, denn es war bis dahin ohne ordentliche christliche Unterweisung geblieben, in die Kirche geführt. Und da hing dieser fast nackte, leider tote Mann am Kreuz, da war schon einiges zu erklären.
Gegen die Supermacht
Mir schien die Erklärung, die meine Schwiegermutter meiner Tochter gegeben hatte, einiger Modifikationen zu bedürfen. "Also pass auf", sagte ich, "erstens ist das keine Unterhose, sondern ein Lendentuch. Und zweitens ist dieser Mensch nicht einfach der liebe Gott." Ganz abgesehen davon, dass die Verbindung des Eigenschaftswortes lieb mit dem Hauptwort Gott alles andere als selbstverständlich ist, aber das sagte ich Miriam damals noch nicht.
Ihr etwas von der möglichen Wahrheit näherzubringen, erwies sich überhaupt als schwierig. Denn was war das für eine furchtbare Wahrheit?! Da hängt einer am Kreuz, und dieses Kreuz hängt nicht nur in der Kirche über dem Altar, sondern auch in Schulen neben dem Bild des Bundespräsidenten und in Wirtshäusern in den Herrgottswinkeln. Daran hat man sich gewöhnt, es fällt einem gar nicht mehr auf. Heute würde dieser Mensch am Galgen hängen oder auf dem elektrischen Stuhl sitzen.
Doch wenn so ein Kreuz an der Wegkreuzung steht, dann nennt man es in der hierzulande besonders beliebten Art, alles zu verniedlichen, Marterl. Und die Marter, die dieser Mensch erlitten hat, am Kreuz, diesem fürchterlichen Hinrichtungsinstrument - unglaubliche Landstriche müssen die Römer damals abgeholzt haben, um die Leute, die der Supermacht Widerstand leisteten, exemplarisch an solchen Kreuzen verenden zu lassen -, die Marter ist ganz aus dem Wort verschwunden. Jedenfalls wird sie kaum mehr wahrgenommen. So ein Marterl hat im Gegenteil etwas Anheimelndes, manche Leute setzen sich gern darunter und jausnen.
Auf manchen Bildsäulen hält der trotz seines Bilderverbots meist als alter Mann mit langem Bart dargestellte Gott das Kreuz mit seinem gemarterten Sohn demonstrativ vor sich hin. Lamm (also Opfertier) Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt. Wem fällt so was ein? Gott? Seinen Mensch gewordenen Sohn zu opfern!? Für gläubige Juden ist die Vorstellung, dass Gott einen Sohn haben soll, übrigens die größte Chuzpe.
So der Schriftsteller Hermann Hakel, ein älterer Kollege, den ich Ende der 70er-Jahre manchmal besucht habe. Er rief mich an, nachdem er ein Buch von mir gelesen hatte. "Besuchen Sie mich einmal", sagte er, "ich glaube, wir könnten gut miteinander reden." Es blieb nicht bei einem Besuch, es blieb nicht bei einem Gespräch über mein Buch, unsere Gespräche gerieten in erstaunliche Bereiche.
"Ich bitte Sie" , sagte er, "wozu braucht Gott einen Sohn?" "Ich bin, der ich bin", sagt die Stimme aus dem brennenden Dornbusch. Der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dem Abraham hat er übrigens auf drastische (und zugegeben sadistische) Weise beigebracht, dass er keine Menschenopfer mehr mag.
Diese Barbarei hat das Judentum also mit Abraham überwunden. Und dann, achtzehn Jahrhunderte später, soll Gott selbst hinter das Erkenntnisniveau Abrahams zurückfallen? In die Zeit, in der er noch etwas von einem menschenfressenden Dämon an sich hatte? Wissen Sie, wie man das in der Naturwissenschaft nennt? Einen Atavismus nennt man so etwas!
Abwesender Vater
So kann man das also auch sehen. Die christliche Theologie sieht es anders. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Mensch gewordenen Sohn für sie geopfert hat. Der Sohn wird mit dem Vater für wesensgleich erklärt, Vater und Sohn sind so gut wie eins. Nimmt man das ernst, so hat sich Gott also anlässlich der Kreuzigung selbst geopfert. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass das dem von einer jüdischen Reformbewegung zur römischen Staatsreligion mutierten Christentum ganz recht war. Mit dem jüdischen Gott im Rücken fühlte man sich doch etwas unbehaglich.
Nun hatte sich dieser alte Gott selbst erledigt. Den Sohn ließ man auferstehen, aber den Vater war man damit los.
Aber das nur am Rande. Es geht hier nicht um den womöglich auf Nimmerwiedersehen verschwundenen Gott, sondern um Jesus. In Jesus, so heißt es, ist Gott Mensch geworden. Diese Idee rührt tatsächlich an Herz und Seele. Allerdings war seines Bleibens unter den Menschen nur kurz, die Evangelien lassen durchblicken, dass wir selbst daran schuld sind, er war unter uns, und wir haben ihn nicht erkannt.
Und als wir ihn erkannt haben, war es zu spät. Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, das hätten wir uns früher überlegen müssen. Zwar war er nach seiner Auferstehung, an die vorerst nicht einmal die Jünger so recht glauben wollten, noch ein bisschen da, den ungläubigen Thomas hat er sogar die Hand in seine Wunden legen lassen. Aber dann ist er in den Himmel aufgefahren, wohin sonst, auf einem Bild, das mich immer besonders amüsiert hat, sieht man gerade noch seine Füße und den Saum seiner Tunika, der Rest ist bereits in den Wolken verschwunden, darunter stehen die Jünger mit offenen Mündern.
Aber am Anfang liegt das Kind in der Krippe. Da liegt es, bereits mit ausgebreiteten Armen. Rund zweitausend Jahre haben es Menschen, die meist keine Ahnung hatten, woher der von seinen jüdischen Wurzeln losgerissene Messiasglaube kommt und was es damit ursprünglich für eine Bewandtnis hatte, für selbstverständlich gehalten, dass dieses Kind dreißig Jahre später am Kreuz endet. Christ ist erschienen, uns zu entsühnen - wie schön von ihm, wie praktisch für uns, freue dich, oh Christenheit!
Gewiss, man kann diese Haltung auch anders deuten. Dass Jesus die ganze Welt umarmen wollte. Als Baby bereits und dann später, am Kreuz, erst recht. Es gibt auch andere Assoziationen: Günter Grass sieht die Haltung des Gekreuzigten als die eines Turmspringers, heute, in weiter fortgeschrittenen Zeiten, könnte uns auch die eines Bungee-Jumpers dazu einfallen.
So einer breitet vorn die Arme aus und springt in den Abgrund, doch hinten hängt er am Gummiseil, das ihn hält. Religio heißt Rückverbindung, aber das nur nebenbei. Dazu, dass man glaubt, dass das Gummiseil hält, gehört ein gewisses Gottvertrauen. So sagt man noch heute. Aber meistens sagt man das nur im Scherz.
Was sagt man im Ernst? Im Ernst hat man wenig zu sagen. Auf der Höhe der Zeit zu sein heißt, an der Oberfläche zu surfen. Einen surfenden Jesus hat es auch schon gegeben. It's fun, isn't it? Aber ja, really, it's fun.
In einem Roman meines italienischen Kollegen Marco Lodoli entführen drei Anarchisten das Jesuskind. Das heißt, sie entführen zuerst ein Jesuskind aus Holz oder Gips aus einer römischen Vorstadtkirche, probeweise, und haben es dann auf den kleinen Heiland aus der Krippe auf dem Petersplatz abgesehen. Das ist, so amüsant sich das Buch liest, kein über die Stränge schlagender Jux, sondern eine tiefernste Symbolhandlung. Wie kann man es zulassen, dass dieses Kind, das noch zu Weihnachten lieb lächelnd mit ausgebreiteten Ärmchen selbst Ochs und Esel rührt, wenige Monate später, zu Ostern, denn im Kirchenjahr läuft alles im Zeitraffer, als erwachsener Mann am Kreuz hängt?
Anarchistenzirkus
Die Anarchisten wollen das verhindern, sie wollen diesen Kreislauf durchbrechen. Und wer weiß, vielleicht wird die Welt, in der von Erlösung seit 2000 Jahren nur die Rede ist - doch zu bemerken ist durch all die Jahrhunderte, in denen man einen armen Gefolterten nach und nach an die Stelle Gottes gesetzt hat, nicht viel von ihr -, vielleicht wird die Welt dann besser sein. Ins Deutsche übersetzt heißt das Buch Der große Anarchistenzirkus, das ist ein schöner Titel. Das Original aber heißt Grande Circo Invalido, also Der große Invalidenzirkus, und dieser Titel ist noch richtiger.
Wir alle sind Invaliden. Denn diese Welt ist nicht heil. War es nie, obwohl sie die Kirchen für im Prinzip heil erklärt haben. Die Erlösung hat bereits stattgefunden - das ist eine vielleicht gut gemeinte, aber im tiefsten Grund unverschämte Lüge. Die Offenbarung ist ein für allemal abgeschlossen - mit Festlegungen wie dieser (etwas ausführlicher formuliert in einer sogenannten sententia certa) hat die römische Kirche die Tür zu Gott hinter sich zugeschlagen.
Ein Bild aus der Literatur, das mich wieder und wieder beeindruckt: Die Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab. Ich sage ein Bild, denn dieser Text ist tatsächlich aufgebaut wie ein Gemälde. Das Altarbild in einer Kirche, die man sich als Ruine vorstellen könnte.
Bei Jean Paul kann man das finden, einem der hintergründigsten Schriftsteller der Romantik. Ein gewaltiges Bild. Anscheinend ist der jüngste Tag angebrochen. Unten im Bild stehen die Toten aus ihren Gräbern auf. Oben, in den Apsiden gewissermaßen, erscheint Christus, so weit läuft alles wie vorgesehen. Die Toten stehen auf, und Christus ist, wie versprochen, da, aber nun kommt die schockierende Überraschung. Offenbar hat Christus in all der Zeit, die seit seinem Opfertod vergangen ist, Gott nicht gefunden. Der auferstandene Christus - vielleicht wäre es zutreffender zu sagen, der untote Christus. "Alle Toten riefen: Christus, ist kein Gott? Er antwortete: Es ist keiner."
Und dann beschreibt er, der von seiner Rückverbindung losgelöste Erlöser, seine Irrfahrt durchs Weltall und die Unterwelt. Weder da noch dort ist er Gott begegnet. Das göttliche Auge, das alles überblicken soll, sieht er als leere Augenhöhle. Kurz darauf lässt Jean Paul den vorgeschobenen Erzähler erwachen, alles war nur ein banger Traum - offenbar hat er Angst vor seiner eigenen Courage bekommen.
Aber das haben wir doch längst hinter uns! Die Romantik, ich bitte Sie, das war doch nur ein nostalgischer Rückfall, der die Aufklärung nicht wahrhaben wollte! Und die hat trotz aller Regression nachhaltig gewirkt. Dahinter können wir nicht mehr zurück, und das ist gut so.
Im Grunde genommen sind ja auch Typen wie Kierkegaard und Nietzsche verkappte Romantiker. Das Gedankenspiel um Gott ist längst obsolet. Die Abwesenheit Gottes kostet die meisten Menschen von heute nur mehr ein Achselzucken. Und was die Bilder betrifft: Dem 21.Jahrhundert eröffnen sich doch ganz andere virtuelle Welten!
Schöne Tage
Trotzdem noch einmal zurück zu den alten Bildern. All diesen Jesusbildern in Kirchen, Museen, Galerien und Kunstbänden. Nach den Krippenbildern kommen die Bilder mit den Sterndeutern aus dem Morgenland, dann die von der Flucht nach Ägypten, danach diverse Bilder aus dem Familienalbum.
Das Kind Jesus nicht nur mit seinen Eltern, wobei der arme Josef meist sehr im Hintergrund bleibt, sondern auch mit Tante Elisabeth, Onkel Zacharias und dem Cousin Johannes. Dann schon die Taufe am Jordan und die Bilder des hellen Frühlings in Galiläa. Bergpredigt, Bootspredigt, wunderbare Brot- und Fischvermehrung. Und all die Heilungen von Besessenen und Kranken, all die Tröstungen der Zu-kurz-Gekommenen und ungerecht Behandelten. Das Reich Gottes ist wirklich nahe herangekommen. Aber man weiß ja leider, wie das endet.
Rasch sind die schönen Tage am See Genezareth vorbei, unversehens ist man am Ölberg. Hier wird es dann düster. Und schon wartet das Kreuz. Und das war's dann. - Oder nicht? - Oder doch nicht?
Jesusbilder, ach ja, natürlich auch Bilder des Auferstandenen. Was wäre die abendländische Tradition ohne sie! Verfügbare Bilder: Potenziell sind heute mehr Jesusbilder in Umlauf denn je. Im Internet könnte man jede Menge davon abrufen.
Dennoch: In den Köpfen verblassen diese Bilder allmählich. Für das sogenannte christliche Abendland, das manche nun wieder einmal ordentlich verteidigen wollen, ist Jesus gewiss nicht mehr das, was er einmal war. - Jesus? Irgendetwas hat man noch von diesem Typ gehört, bloß was? - Anregung zu einer Umfrage: Wie viel Prozent aller Taufscheinchristen halten Christus für den Familiennamen ihres Herrn Jesus?
Irgendwie jenseitig
Christen samma alle, besonders gern, wenn es gegen andere geht. Den Eisernen Vorhang hat das christliche Europa ein Stück nach Osten verlegt, von dort soll uns am besten niemand mehr hereinkommen, vor seinen Küsten lässt es Zehntausende ersaufen. Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, soll Jesus gesagt haben. Aber ich bitte Sie, wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen, das hat er sicher nicht so gemeint!
Man darf das doch alles nicht so wörtlich nehmen. Aber dass das Abendland in Christenhand bleiben soll, daran ist schon was Richtiges. Wieso kommen Sie uns übrigens schon wieder mit Jesus daher, haben Sie als Schriftsteller kein zeitgemäßeres Thema? Also ehrlich gesagt, das ist irgendwie jenseitig. Das Bild, das ich trotzdem stehen lassen möchte, stammt aus einem Film von Louis Buñuel. Oder es ist durch diesen Film inspiriert. Die Milchstraße, heißt er und stammt aus dem gesegneten Jahr 1968. Da begeben sich zwei Clochards auf den Jakobsweg (damals war dieser Pilgerweg noch nicht so schrecklich populär wie heute).
Da konnte man sich, gewissermaßen am Wegrand, noch allerlei Visionäres vorstellen. Zumindest ein Regisseur wie Buñuel konnte das, mit surrealistischer Ironie. Ein Querschnitt durch die Kirchengeschichte läuft da ab, es wird über Dogmen gestritten, Ketzer werden verbrannt, die Gebeine eines Heiligen werden ausgegraben.
Und obwohl man ihn in diesem Zusammenhang kaum erwarten würde, kommt auch Jesus vor, tatsächlich: Da ist er - es ist die bekannte Szene mit dem Ährenrupfen am Sabbat, die Buñuel evoziert.
Doch Jesus und seine Schar schreiten nicht, sehen nicht würdig und ernsthaft drein, wie üblich - sie laufen und lachen! Das war meine schönste Erinnerung an diesen Film. Bloß: Als ich ihn ein paar Jahre nach dem ersten Mal wieder gesehen habe, kam gerade diese Szene nicht vor.
Ich habe ihn seither noch ein paar Mal gesehen, immer mit demselben Ergebnis - bis heute weiß ich nicht, ob der Verleih just diese Szene herausgeschnitten hat oder ob ich sie fantasiert habe. (Peter Henisch, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.09.2009)
Zur Person:
Peter Henisch, geboren 1943 in Wien, seit 1975 als freischwebender Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Deuticke der Roman "Der verirrte Messias". Am 5. Oktober
Montag, 21. September 2009
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